von You Xie
中德雙語專欄作家
Journalist und Schriftsteller
班貝格民選市議員
Stadtrat der Stadt Bamberg
Auf dem Bahnsteig 6 im Hauptbahnhof Peking nahm ich Abschied von meinen Familienangehörigen, Verwandten und Freunden, dann stieg ich in einen Zug ein. Abfahrtzeit war 7:40, der Zug sollte über die Innere Mongolei, Eren Hot über die Grenze zur Mongolei, Hauptstadt Ulaanbaatar, dann Sibirien, ehemalige Sowjetunion, Polen und ehemalige DDR fahren. Ankunft war Hauptbahnhof Ostberlin. Das Zugticket kostete mich 892,30 FEC Yuan [1].
Das FEC war eine echte Währung, aber man kann auch sagen, es sei eine falsche Währung. Der Machtmann Deng Xiaoping plante „ein China, zwei Systeme“ für Hong Kong. Innerhalb von Festlandchina wurde die Ersatzwährung FEC eingeführt und war von 1980 bis 1994 im Umlauf. Für Flugtickets, Zug- und Schiffstickets zwischen der VR China und Hongkong/Macao, internationale Telefongespräche und Paketsendungen musste man mit FEC zahlen. Damals verdiente ich im Monat 75,60 RMB Yuan (ungefähr 7,50 DM).
Um dieses Zugticket zu haben, musste ich das FEC haben. Damals war der Wechselkurs auf dem Schwarzmarkt: 1 FEC Yuan zu 8 RMB Yuan. Ich und meine Frau Shenhua waren auf den Schwarzmarkt Nanjing Road in Shanghai gegangen und versuchten, unsere ganze Ersparnis RMB zum FEC zu tauschen. Leider reichte die Ersparnis noch nicht für zwei Tickets. Eines Tages besuchte uns ein Freund. Er sagte mir, in einer Fabrik an der Grenze zur Sowjetunion brauchte man Dolmetscher für Deutsch. Das Honorar: 20 RMB Yuan pro Tag. Ich ging nach Genhe (根河市, eine kreisfreie Stadt des Autonomen Gebietes Innere Mongolei). Da produzierte die Firma BISON aus Springe (bei Hannover) Spanplatten für Möbel- und Hausbau. Zwei Monate, 60 Tage, aber ich habe 1200 RMB Yuan verdient.
Ich habe schon kalkuliert, das Geld für zwei Zugtickets hatte ich schon in der Tasche. Dann sagte ich zu meiner Frau: „Wir schaffen das!“
Ein Freund von mir arbeitete im deutschen Konsulat in Shanghai. Er hat mir ein Buch geschenkt. Das Buch hieß „Das Studium in der Bundesrepublik Deutschland“. Ich suchte aus, Universität Hamburg, Bremen, Frankfurt am Main, Oldenburg und Bamberg. Ich ließ die Zeugnisse der Sun-Yat-sen Universität von mir und Shenhua vom deutschen Konsulat in Shanghai beglaubigen, und dann schickte ich die Bewerbungen um einen Studienplatz nach Deutschland los. Ich habe zuerst die Zulassung von der Uni Bamberg erhalten. In der Informationsbroschüre habe ich gelesen, man könne leicht eine Wohnung und in den Ferien einen Job finden. Ich sagte zu mir selbst: „Bassd scho!“
Es passt doch nicht. Ich beantragte mir einen Reisepass. Die Behörde verlangte von mir ein politisches Gutachten, das von meinem Arbeitgeber VW Shanghai ausgestellt werden sollte. Aber die Firma VW Shanghai verweigerte dies. Zum Glück hatte ich einen Freund, der selbständig war. Dieser Freund hat mir als mein „Arbeitgeber“ die politische Bewertung erteilt.
Mit dem Reisepass in der Hand ging ich nach Peking auf die deutsche Botschaft, um ein Visum zu beantragen. Ich habe bei der Botschaft eingereicht: Reisepass, Zulassung der Uni Bamberg und eine Verpflichtungserklärung. Mein Onkel war ein Geschäftsmann in Bangkok. Er war im deutschen Konsulat in Bangkok gewesen und hat für mich die Verpflichtungserklärung da beglaubigen lassen. Er hat sich verpflichtet, für alle entstehenden Kosten von You Xie aufgrund seines Studienaufenthaltes in Deutschland, einschließlich der Kosten für eventuelle Krankenbehandlung und Rückführung in das Heimatland, aufzukommen.
Der Botschaftsbeamte hat meinen Antrag mit Unterlagen angenommen und mir gesagt, ich sollte zu Hause auf Nachricht warten, es dauerte ungefähr einen Monat. Von Peking zurück, kaum zu Hause, hatte ich ein Telegramm von der deutschen Botschaft erhalten. Es handelte sich um eine neue Regelung, wer in Deutschland studieren will, der soll 20000 RMB Yuan als Pfand bei der Botschaft abgeben. Bei Rückkehr in China bekommt der Absolvent das Geld zurück.
20000 RMB Yuan schienen mir wie „astronomische Zahlen“. Wie könnte ich die Summe aufbringen?
Ein Onkel von mir hat sein Haus und all seinen gesamten Besitz bei der Bank of China verpfändet. Dann hatte ich ein Darlehen in Höhe von 20000 RMB Yuan von der Bank erhalten. Das Einreisevisum zum Studienzweck in der Bundesrepublik Deutschland hatte ich in der Hand, ging ich dann zu den Botschaften der Mongolei, Sowjetunion und Polen, um jeweils ein Transitvisum zu beantragen.
Auf einem Schwarzmarkt neben dem Roten Platz in Moskau habe ich Jeanshosen und Jeansjacken verkauft, und 168 US Dollar verdient. Das war mein einziges Kapital.
Im Zug von Moskau nach Berlin dachte ich an zwei Männer. Der eine war Heinrich Böll wegen seiner Erzählung „Der Zug war pünktlich“.
Böll sagt über seine Literatur, dass ihm das Wichtigste Liebe und Religion sei. Jeder Mensch hat Anrecht auf ein humanes Leben. Es sei Aufgabe der Kunst, dies weiterzugeben und die inhumanen Elemente des Lebens einzubringen. Als wesentlich ist wohl folgende Aussage zu werten: „Wohin ich dich auch führen werde: es wird das Leben sein.“ Diese Rechtfertigung Olinas, kurz vor dem Tod, weist auf die Überzeugung des Autors hin, dass er an ein anderes, neues Leben nach dem Tode glaubt.
Böll macht auch in seiner Erzählung auf die Menschen am Rande aufmerksam. Bei ihnen setzt er die Maßstäbe an, an ihnen rechtfertigt sich unsere humane Gesellschaft. Er schält ihre Besonderheiten heraus, er zeigt auf, weshalb sie von der Gesellschaft an den Rand gedrängt wurden. Er hinterfragt die Schicksale und das Inhumane, welches zu diesen Schicksalen führt. Im Gegensatz dazu stehen die von der Gesellschaft als erfolgreich Anerkannten. Werte wie Geld, Reichtum, Titel, Macht werden im Buch der Liebe, dem Gefühl, der Mitmenschlichkeit gegenübergestellt.
Der andere war mein Vater. Mein Vater hat mir vor der Abreise gesagt: „In China braucht man 40000 Yuan, um einen Studenten bis zum Abschluss auszubilden. Umgerechnet, 100 Bauern müssen 4 Jahre arbeiten, um 40000 Yuan zu kriegen. Du hast in China studiert und nichts für China gemacht, und jetzt gehst du weg von China. Du musst lernen, etwas zurückzugeben. Frage nicht, was China für dich tun kann, sondern was du für China tun kannst.“
Tian’anmen-Massaker hat meinen Lebensplan gründlich geändert, ich wurde Persona non grata. Ich bin ein Flüchtling, Bamberg ist nicht mein letztes Ziel. Unterwegs bin ich, meine ganze Sehnsucht gilt jener zukünftigen Heimat.
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[1] Das Foreign Exchange Certificate (FEC) war eine 1980–1994 im Umlauf befindliche Ersatzwährung für sich in der Volksrepublik China aufhaltende Ausländer. Mit ihr sollte die staatliche Kontrolle über den Devisenverkehr erleichtert werden.
FEC wurden von der Bank of China mit den Nennwerten 1 und 5 Jiao sowie 1, 5, 10, 50 und 100 Yuan herausgegeben. Der Zahlung mit FEC war für die Durchführung bestimmter Transaktionen durch sich vorübergehend in der Volksrepublik China aufhaltende Ausländer inklusive der Chinesen aus Hongkong, Macau, Taiwan und Übersee sowie durch ausländische Diplomaten vorgeschrieben. Zu den FEC-pflichtigen Transaktionen gehörten: Hotel und Unterkunft, Flugtickets, usw.
1994 schaffte Deng Xiaoping die FEC im Zuge der weiteren wirtschaftlichen Öffnung Chinas ab.
Ich frage mich schon, wie sich die Mitgliedschaft in der CSU angesichts deren aktueller Einstellung zu Flüchtlingen erklärt.
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Mit freundlichen Grüßen
Erich Weiß