Eine unendliche Geschichte: Der 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung

Christoph Butterwegge 

Nach am 27. Januar 2000 und am 19. Oktober 2001 gefassten Parlamentsbeschlüssen soll die Bundesregierung regelmäßig einen Armuts- und Reichtumsbericht vorlegen, und zwar jeweils zur Mitte einer Legislaturperiode. Unterschiedlich zusammengesetzte Regierungskoalitionen haben dies seit der Jahrtausendwende – wenngleich nicht immer termingerecht – drei Mal getan. Besonders viel Zeit ließ sich die CDU/CSU/FDP-Regierung in der laufenden Legislaturperiode. Erst knapp ein Jahr nach dem eigentlich vorgesehenen Veröffentlichungstermin, am 18. September 2012, wurde der Entwurf zum 4. Armuts- und Reichtumsbericht durch eine Indiskretion bekannt, als die Süddeutsche Zeitung darüber unter dem Titel „Reiche trotz Finanzkrise immer reicher“ berichtete.

Während ein Aufschrei der Empörung über die zunehmende Spaltung in Arm und Reich durch das Land ging, stieß sich die FDP an den Bewertungen des CDU-geführten Arbeits- und Sozialministeriums, das für die Datensammlung verantwortlich zeichnet. Vizekanzler und Wirtschaftsminister Philipp Rösler kritisierte besonders Feststellungen, dass die Privatvermögen hierzulande „sehr ungleich verteilt“ seien, dass die Einkommensspreizung zugenommen habe, dass über 4 Mio. Menschen für einen Bruttostundenlohn von unter 7 Euro arbeiten und dass Niedriglöhne das Armutsrisiko verschärfen und den sozialen Zusammenhalt schwächen. Daraufhin wurden Passagen, die den ausufernden Niedriglohnsektor, die zunehmende Lohnspreizung und die extreme Verteilungsschieflage betrafen, im Rahmen der Ressortabstimmung gestrichen bzw. abgeschwächt, was der Regierungskoalition den Vorwurf eintrug, das Dokument über die Lebenslagen in Deutschland geschönt zu haben. Zum ersten Mal wurde soziale Kosmetik dieser Art nicht hinter den Kulissen, vielmehr vor aller Augen betrieben und weiten Teilen der Öffentlichkeit klar, dass Armut und Reichtum einer politischen Klassifikation unterliegen und selbst innerhalb des „bürgerlichen Lagers“ gegensätzliche Bewertungen existieren. Deshalb wäre es auch falsch, den Armuts- und Reichtumsbericht von scheinbar „unabhängigen“ Wissenschaftlern erstellen zu lassen und die Bundesregierung damit von der Pflicht zu entbinden, selbst Position in Sachen Einkommens- und Vermögensverteilung bzw. Verteilungs(un)gerechtigkeit zu beziehen.

Aufgrund der Meinungsverschiedenheiten innerhalb der schwarz-gelben Koalition verschob das Kanzleramt mehrfach die Beschlussfassung über den Regierungsbericht. Nun soll das Bundeskabinett am 6. März darüber befinden. Schieben CDU, CSU und FDP das Berichtsthema der sozialen Polarisierung auf die lange Bank, wird es im kommenden Bundestagswahlkampf, der sich ohnehin um Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen drehen dürfte, eine noch größere Rolle spielen, was kaum im Sinne der Regierungsparteien sein dürfte.

Deutschlands dreifache Spaltung

Trotz aller Beschönigungs-, Beschwichtigungs- und Entschuldigungsversuche dokumentiert der 4. Armuts- und Reichtumsbericht deutlicher als die vorangegangenen Deutschlands dreifache Spaltung: Erstens wachsen Armut und Reichtum gleichermaßen, sind also zwei Seiten derselben Medaille. Dies zeigt sich besonders deutlich beim Vermögen, das Armen ganz fehlt, weil es sich zunehmend bei den wenigen Superreichen konzentriert, die über riesiges Kapitaleigentum verfügen und meistens auch große Erbschaften machen. Während die reichsten 10 Prozent der Bevölkerung mehr als 53 Prozent des Nettogesamtvermögens besitzen, kommt die ärmere Hälfte der Bevölkerung gerade mal auf 1 Prozent. Über 40 Mio. Menschen leben also von der Hand in den Mund. Bertolt Brecht hat es in einem Vierzeiler unnachahmlich prägnant ausgedrückt: „Armer Mann und reicher Mann / standen da und sah’n sich an. / Und der Arme sagte bleich: / Wär’ ich nicht arm, wärst du nicht reich.“ Deshalb kann Armut im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung auch nicht durch wachsenden Reichtum beseitigt werden. Anders formuliert: Reichtumsförderung, wie sie die Bundesregierung trotz wechselnder Koalitionen seit Jahrzehnten betreibt, ist keine Armutsbekämpfung.

Zweitens geht der wachsende private Reichtum zwangsläufig mit einer öffentlichen Verarmung einher. Während das Nettovermögen des Staates laut 4. Armuts- und Reichtumsbericht in den letzten beiden Jahrzehnten um mehr als 800 Mrd. Euro gesunken ist, hat sich das private Nettovermögen allein zwischen 2007 und 2012 um 1,4 Bio. Euro erhöht. Geld ist also genug da, es befindet sich aber in den falschen Taschen, was den Staat auf Dauer unfähig macht, soziale Probleme zu lösen oder wenigstens zu lindern. Da sich Banker, Broker und Börsianer, besonders rücksichtslose Spekulanten, die Taschen gefüllt haben, musste der Staat im Gefolge der Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise bluten, Volkseigentum verscherbeln und mehr Schulden machen, um Rettungspakete für Gläubigerbanken, Kapitalanleger und Großaktionäre schnüren zu können. In dieser Situation bedeuten im Grundgesetz, in den Landesverfassungen und im europäischen Fiskalvertrag festgeschriebene „Schuldenbremsen“, dass der Sozialstaat, wie man ihn bisher kannte, zu Grabe getragen wird.

Nur am Rande erwähnt werden die krassen regionalen Disparitäten, unter denen das Ost-West- und das Nord-Süd-Wohlstandsgefälle besonders hervorstechen. Wenn der Sozialabbau und die Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip (im Evangelium des Matthäus heißt es sinngemäß: „Wer hat, dem wird gegeben, und wer wenig hat, dem wird auch das Wenige noch genommen“) fortgesetzt werden, dürften die Städte der Bundesrepublik noch mehr zerfallen: in Luxusquartiere, wo sich die (Super-)Reichen hinter hohen Mauern verschanzen und von privaten Sicherheitsdiensten bewachen lassen, einerseits sowie in Elendsquartiere, wo sich die Armen zusammenballen, andererseits. Was der 4. Armuts- und Reichtumsbericht gänzlich verschweigt: Das hier skizzierte Szenario hat die Bundesregierung selbst heraufbeschworen, wie auch diesmal nur berichtet wird, aber Konsequenzen im Sinne einer Kurskorrektur etwa auf steuerpolitischem Gebiet ausbleiben.

Altersarmut – ein Ammenmärchen?

Undifferenzierter geht es kaum: „Die Einkommens- und Vermögenssituation der Älteren von heute ist überdurchschnittlich gut“, heißt es im 4. Armuts- und Reichtumsbericht, den die Bundesregierung erst nach mehrfacher Verschiebung kurz vor dem Ende dieser Legislaturperiode und zu Beginn eines Wahlkampfes, in dem das Problem der Altersarmut und Fragen der sozialen Gerechtigkeit eine große Rolle spielen dürften, beschließt. Es wird darauf hingewiesen, dass am 31. Dezember 2011 „nur“ 436.210 Personen über 64 Jahren die Grundsicherung im Alter bezogen, was einem Anteilswert von rund 2,6 Prozent der Bevölkerung in dieser Altersgruppe entsprach, wohingegen der Anteil von Empfänger(inne)n von Mindestsicherungsleistungen aller Altersgruppen an der Gesamtbevölkerung bei 8,9 Prozent lag. Dies mache deutlich, „dass Bedürftigkeit im Alter heute kein Problem darstellt.“ Dabei verkennt die Bundesregierung, was allgemein bekannt ist: Gerade unter den Senior(inn)en ist die Dunkelziffer, d.h. der Anteil jener Menschen, die – ihnen eigentlich zustehende – Sozialleistungen wie die Grundsicherung nicht beantragen, weil sie zu stolz sind, weil sie sich schämen, weil sie den bürokratischen Aufwand scheuen oder weil sie fälschlicherweise den Unterhaltsrückgriff auf ihre Kinder und Enkel fürchten, besonders hoch. Man muss deshalb von mehr als einer Million Ruheständler(inne)n ausgehen, die auf oder unter dem Hartz-IV-Niveau (durchschnittlich 707 Euro pro Monat) leben. Mehr als 760.000 haben einen Minijob; fast 120.000 davon sind 75 Jahre oder älter. Altersarmut ist kein Zukunftsproblem, sondern längst eine bedrückende Zeiterscheinung, wie jeder weiß, der alte Menschen frühmorgens Zeitungen austragen, Klos putzen oder Regale im Supermarkt einräumen sieht. Vielerorts gehören Greise, die in Müllcontainern nach Pfandflaschen suchen, denn auch längst zum „normalen“ Stadtbild.

Wer ohne ideologische Scheuklappen durchs Land geht und genau hinschaut, kommt daher zu einem anderen Ergebnis als die Bundesregierung: Momentan verfestigt sich die Armut und breitet sich in die Mitte der Gesellschaft hinein aus, ohne von den politischen Entscheidungsträgern als Kardinalproblem der Gesellschaftsentwicklung wahrgenommen zu werden. Denn alle vier Regierungsberichte tun so, als sei die Sozialpolitik der Bundesrepublik eine riesige Erfolgsgeschichte.

Die soziale Spaltung unseres Landes dürfte weiter zunehmen, falls ihr nicht entschieden begegnet wird. Aufgrund härterer Verteilungskämpfe um die knappen Finanzmittel des Staates ist jedoch keine Verbesserung des sozialen Klima zu erwarten. Im ursprünglichen Entwurf des Arbeits- und Sozialministeriums vom 17. September 2012 hieß es noch: „Die Bundesregierung prüft, ob und wie über die Progression in der Einkommensteuer hinaus privater Reichtum [Hervorhebung im Original, Ch.B.] für die nachhaltige Finanzierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden kann.“ Dieser Satz stieß bei den FDP-Bundesministern auf Widerstand, weil sie dahinter eine Forderung nach Steuererhöhungen zwecks Umverteilung von oben nach unten witterten. Nach der Ressortabstimmung zwischen den Ministerien heißt die entsprechende Passage im neuen Entwurf vom 21. November 2012: „Die Bundesregierung prüft, wie weiteres persönliches und finanzielles freiwilliges Engagement Vermögender [Hervorhebung im Original, Ch.B.] in Deutschland für das Gemeinwohl eingeworben werden kann.“ Man will den Wohlhabenden nicht wehtun, sondern überlässt es Reichen und Superreichen selbst, ob und wie sie sich für das Gemeinwohl engagieren. Einmal mehr haben die Besitzstandswahrer im Regierungslager ihre Interessen durchgesetzt. Auf diese Weise lassen sich die sozialen Probleme der Bundesrepublik nicht lösen. Nötig wäre die Wiedererhebung der Vermögensteuer, eine progressiver gestaltete Einkommensteuer sowie eine Erbschaftsteuer, die große Vermögen tatsächlich erfasst und nicht immer mehr zur Bagatellsteuer verkommt.

Literatur:

  • Butterwegge, Christoph: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird, 3. Aufl. Frankfurt am Main/New York 2012
  • Butterwegge, Christoph: Krise und Zukunft des Sozialstaates, 4. Aufl. Wiesbaden 2012
  • Butterwegge, Christoph/Bosbach, Gerd/Birkwald, Matthias W. (Hrsg.): Armut im Alter. Probleme und Perspektiven der sozialen Sicherung, Frankfurt am Main/New York 2012
  • Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Universität Köln, Gronewaldstr. 2 

2 Gedanken zu „Eine unendliche Geschichte: Der 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung

  1. Nicht immer ist die Politik für Armut verwantwortlich. Habe da drei Beispiele aus der Praxis:

    – Rentnerin erhält trotz 45-jähriger Berufstätigkeit eine vergleichseweise niedrige Rente. Es stellte sich dabei dann aber heraus, dass die Dame rund zwei Jahrzehnte „schwarz“ gearbeitet hat (also folglich keine Beiträge an die RV zahlte).

    oder:
    Angestellte lässt sich nach ihrer Eheschließung die bisher einbezahlten Rentenbeiträge wieder ausbezahlen (war früher möglich) und verzichtet somit auf einen beachtlichen Teil des später zu erwartenden Rentenanspruchs.

    oder:
    Älterer, ungelernter Hilfsarbeiter verliert Job, weil er ständig Kollegen mit Migrationshintergrund rassistisch beschimpft. Er bezieht nun Hartz IV.

    Die Politik mag sicherlich eine Mitschuld an Armut im Lande haben (Beispiele gibt es hierfür nicht wenige). Unbestritten gibt es aber auch Fälle, in denen man den Betroffenen vorwerfen kann, für ihre Situation zum Teil auch selbst mit verantwortlich zu sein.

  2. Das Traurige ist, dieser Trend verschärft sich nun durch drei verschiedene Regierungskonstellationen hindurch immer weiter. Was bereits in der 3. Regierung Kohl/Genscher (Schwarz-Gelb) begann, wurde deutlich verschärft durch die Regierung Schröder/Fischer (Rot-Grün, vor Allem die Deregulierung der Leiharbeit, der Verzicht auf Mindestlöhne bei den Hartz-Gesetzen und die Steuerfreistellung von Veräußerungsgewinnen haben hier katastrophale Wirkungen gehabt), die folgende Regierung Merkel/Müntefering/Steinmeier (Schwarz-Rot) wusste dies nicht einzudämmen, die Regierung Merkel/Westerwelle/Rösler (Schwarz-Gelb) versuchte teilweise Verschärfung (keine Rentenebeiträge für Arbeitslose), teilweise Placebo-Notreparaturen („Lebensleistungsrente“ unter zig Bedingungen, die kaum ein Kandidat erfüllt) mit dem nachlesbarem Ergebnis.

    Ich fürchte auch die nächste Regierung, ob Merkel/Steinbrück oder Merkel/Trittin, wird da wenig ändern. Es war schließlich eine ganz große Koalition, die diese Situation in den beiden vergangenen Dekaden herbei geführt hat. Da müssten die Beteiligten quer durch die politischen Lager zunächst einmal ihr Versagen eingestehen – und Fehler darf man heutzutage nicht zugeben, Schwächen sind unpopulär. Vielleicht könnte der Papst ein Vorbild sein?

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